Bewusstsein,

Liebe &

Freiheit 

Text & Interview: Peter Parker

 London ist die Metropole für das Entstehen von musikalischen Hybriden. Futuristische Auswüchse von Funk verwachsen hier mit HipHop oder House. Dancehall und Reggae befruchten Drum ’n’ Bass, während die britische Basskultur gerade den Dubstep und sich selbst mal wieder erfrischend neu erfunden hat. Während in den Clubs euphorisch ein kaum fassbares und definierbares Gebräu namens Garage gepumpt und die Dance Music zelebriert wird, besinnt man sich doch immer wieder auf die Wurzeln dieser modernen Formen der Schmelztiegelklangwelten.

Diese liegen in einem inzwischen legendären Plattenladen im Stadtteil Soho zum Hineingraben bereit. Vor über 20 Jahren entstand die Idee für diesen Shop aus der Sammlerleidenschaft eines gewissen Stuart Baker. Dieser war früh mit dem Sammlervirus im Multikulti-Bezirk von Brixton infiziert worden und baute seine Begeisterung für Vinyl aus den Genres Soul, Funk, Jazz und später auch Reggae durch intensive Plattenjagdreisen in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Die Passion füllte sein Leben so aus, dass er sich entschied sich dieser zu ergeben und seine Berufung für voll zu nehmen. So entstand schließlich Soul Jazz Records in der englischen Hauptstadt. 

Dem war jedoch nicht genug. Der inzwischen etablierte Plattenladen wurde alsbald als Label ausgeweitet. Dieses sollte primär mit Zusammenstellungen von raren Scheiben dazu führen, dass nicht nur fanatische Nerds in den Genuss von diesen seltenen und oft nur als 7inch veröffentlichten limitierten Rillen kommen.

Die Reggae-Compilations der Reihe „100% Dynamite“ stehen nicht nur für die Anfangserfolge des Imprints, sondern auch für den besten Samplern zu dieser Thematik, die von Sammlern, Liebhabern und Kritiker zu gleich hoch geschätzt werden. Aber reicht es wirklich einfach nur begehrte und schwer zu bekommende Vinyl-Singles zusammen zu suchen? Dem stetigen Erfolg und dem hohen Ansehen des Labels liegen weitere Komponenten zugrunde.

Der Compiler und seine tiefe Verbundenheit zur Musik sind dabei von elementarer Entscheidung. Sieht man die Detailverliebtheit und akribische Recherche-Arbeit hinter den Veröffentlichungen des kleinen Independent-Labels, zeugen diese davon, dass nicht nur für einfaches Interesse an einem Stück Musik aus einem spezifischen Genre oder Subgenre gesorgt werden will. Hier bekommt man ein ethnologisches Gesamtpaket geschnürt. Die dicken Booklets beinhalten mehr als nur schlichte Informationen zu den Interpreten, Produzenten oder Komponisten der Stücke. Hier bekommt man eine Geschichte geliefert. Hier passiert es regelmäßig, dass die ausgewählte Musik in Epochen eingeordnet und deren Intention aufgrund der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe erklärt wird. Hier schaut man hinter die Kulissen und zeigt die Entstehung der Werke auf. Hier wird einem begreiflich gemacht, wann wer mit wem musiziert hat und warum genau dieses Ergebnis so ausgefallen sein könnte. Hier kann man die Relevanz von Musik vergangener Jahrzehnte auf die heutige Zeit nachvollziehen. Hier wird man darüber aufgeklärt welcher Protagonist mit einem anderen in Verbindung stand.

Musikhistorisch gibt es sehr wenige Labels weltweit die bei den Nachforschungen so in die Tiefe gehen wie Soul Jazz Records. Der werte Käufer einer Scheibe wird an die Hand genommen und es wird ihm die Welt von damals gezeigt und verständlich gemacht. Insideraussagen, Zeitzeugenberichte, nie zuvor gesehene Fotos oder Konzertplakate – die Sorgfalt und der Umfang wie hier der Rahmen für die thematisierten Sounds beschrieben wird ist ein Genuss für jeden der mehr erfahren will.

Das Label will sich jedoch nicht ausschließlich an alter Musik orientieren. Die Veröffentlichungspolitik hat nur oberflächlich gesehen die Ausrichtung Klangereignisse von damals vorzustellen. Der progressive Geist in der Motivation etwas für die Erinnerungskultur zu tun, ist nicht verloren gegangen. So gab es immer wieder Releases, die hochwertige, zeitgenössische, elektronische Musik aus den Bereichen House, Techno oder auch Dubstep vorstellen. Bei den sehr beliebten Retrospektiven in den Fachbereichen Soul, Funk, Jazz und Reggae hatte man sich früh dafür entschieden diese auszubauen und um die Genres Punk, Old School HipHop, New Wave, Brazil oder Latin zu erweitern. Baker selbst hat oft in Interviews betont, dass es keine wirkliche Strategie dahinter gibt. Die einzige Konstante scheint dabei zu sein, dass man keine Strömung außen vor lassen möchte und vielleicht sogar auf etwas weniger beachtete Stücke oder Interpreten liebevoll hinweisen will. Ob man den Ton in dem die Geschichten aus den Booklet geschrieben sind, als belehrend empfindet, muss man selbst entscheiden. Das ausführliche Angebot, mehr über die gekaufte Musik zu erfahren, steht jedenfalls bereit – zum gleichen Preis, wohlgemerkt. Stammkunden der Soul Jazz Records-Produkte sprechen nicht ohne Grund von etwas ganz Besonderem und schwören gerne und oft dem Label die Treue.

Nun hat das kleine Londoner Label keine Reputation mehr nötig. Ihre Compilations erfreuen sich weiter großer Beliebtheit und gerade bei Rare Groove-Fans genießt das Label ein solches Ansehen, dass man gemeinhin von einer nicht mehr wegzudenkenden Institution spricht. Das Streben weiterhin einen hochwertigen Output zu haben geht jedoch weiter.

Im Herbst 2009 veröffentlicht das Label ein Buch parallel zu der passende Compilation. Thematisiert wird auf den 200 Seiten des Hartbandes „Freedom, Rhythm and Sound“ sehr detailliert die Entstehung und Entwicklung revolutionärer Jazzklänge in der Zeit der friedlichen Bürgerrechtsbewegungen um Martin Luther King und der radikalen Entfaltung der Nation of Islam, Malcolm X oder der Black Panther Party. Hier wird dokumentiert in wie fern ökonomische, gesellschaftliche, politische und soziale Faktoren eine Wechselwirkung mit der Musik aus dieser Zeit hatte. Dabei wird der Fokus auf jene Freigeistern gelegt, die eine neue Herangehensweise, einen neuen Auftrag an die Musik stellten. Tiefe Spiritualität und ausgeprägter Afro-Zentrismus waren die Merkmale der revolutionären Befreiung in mehreren Aspekten. Die Art und Weise wie radikal diese Bestrebungen und Umsetzungen waren und welche gesellschaftliche Relevanz damit verbunden wird kann man hier eindrucksvoll nachvollziehen. Die großen Namen wie Dizzy Gillespie und ihre epochalen Werke werden dabei bewusst etwas außer Acht gelassen und die autarke Bewegung in den 60ern beleuchtet. Hier erschienen kleine Auflagen von teilweise nur 500 Pressungen deren Kreativität und zugleich Radikalität hier gebührende Erwähnung finden und als bedeutende Dokumente der ungezügelten Freiheit eingeordnet werden. Es wird verdeutlicht, dass die hartköpfigen Improvisationen eines John Coltrane zwar als elementar, jedoch nicht alleinig gesehen werden dürfen. Archie Sheep, Don Cherry, Ornette Coleman oder Bill Dixon werden hier als Mitinitiatoren genannt.

In einer Zeit in der das Vinyl eine kleine Renaissance erlebt und wieder mal
seinen Kritikern, die mal wieder dessen Tod prognostizierten, einen Strich durch
die Rechnung macht, erinnert Baker bei dieser Gelegenheit, in Kooperation mit
dem BBC-Radioguru Gilles Peterson, an die Kunst des Cover-Artworks. Im Zeitalter von MP3, einem Format das kein Gesicht mehr hat, aktivieren die beiden Musikspezialisten in diesem Buch der Illustrationen des revolutionären Jazz ein altes, verloren geglaubtes Bewusstsein für diese Kunst. Sie visualisieren zusätzlich diese besondere Epoche und ihre Inhalte sehr explizit.
Die Covers unterstreichen das Begehren von Freidenkern und Visionären wie Sun Ra, Pharaoh Sanders oder Weldon Irvine. Man beschränkte sich nicht ganz auf den Zeitabschnitt des Schwerpunktes in den 60ern. Auch für relevant befundene Werke aus den Spätsiebzigern (Lonnie Liston Smith) und dem Anfang der 80er (Gil Scott-Heron) werden hier angeführt.

Auch weiterhin hat das britische Label mit der offenkundigen Liebe zum Detail
hochinteressante Themen für mehrere Sinnesorgane und die Seele zu bieten. Was treibt Stuart Baker, den Macher, eigentlich an? Was sind für die Zukunft weitere Ziele die verwirklicht werden sollen? Was ist die Schallplatte und die Coverart im schnelllebigen, digitalen Zeitalter noch wert? Welchen Anspruch hat der Hörer heute überhaupt noch an Musik? Gibt es heute noch wirklich revolutionäre musikalische Ansätze? Einen interessanten Gesprächspartner für diese Fragen und noch viel darüber hinaus findet man, wie vermutbar, in Stuart Baker. Ein leidenschaftlicher Musikliebhaber und Verfechter von Kulturgut mit Botschaft.

 Wie kam es zu der Idee eine Compilation zusammen zu stellen und zur selben Thematik ein Buch zu erstellen?

Baker: In der Tat war es die Wahl von Barack Obama, die diese Idee geboren hatte. Diese Wahl sehe ich als eine Art Gültigkeitsprüfung der Bürgerrechte und alles was damals damit in Verbindung stand. Die Parallelen haben mich in einer gewissen Art und Weise an die 1960er Jahre erinnert.

 Heutzutage ist für viele scheinbar die Coverart nichts wert. Musik hat kein Gesicht mehr. Covers von großen Alben der Musikgeschichte haben immer zum Gesamtkunstwert beigetragen. Ich denke da ganz plakativ mal an Velvet Underground, David Bowie oder Abby Road von den Beatles. Ist der Anspruch verloren gegangen großer Musik grafisch noch mehr hervorzuheben?

Baker: Ich denke schon, dass der Prozess der Digitalisierung von Musik einen großen Anteil daran hat, dass man die Idee der großen Coverkunst vernachlässigt hat die die Musik unterstreichen und begleiten sollte. Da für und dagegen von MP3 will ich überhaupt nicht diskutieren. Da hat vor 20 Jahren schon damit begonnen, dass die CD auf den Markt kam, die MP3 hat das alles jedoch sehr viel mehr ausgeprägt. Das Buch erzählt eine Geschichte über und durch die Covers. Das war uns wichtig.

 Wir haben das Zeitalter der digitalen Tonträger. MP3 und tragbare Abspielgeräte wie das Handy oder der iPod sind zeitgenössisch für den Massenkonsum von Musik verantwortlich. Das Cover einer LP spielt keine Rolle mehr. Ist das Cover ein Relikt aus vergangen Zeiten an das nur noch Nostalgiker glauben?

Baker: Das ist schwer zu beantworten. Ich mag Musik und ich mag die Kunst die damit in Verbindung steht. Da wollten wir mit diesem Buch auch zum Ausdruck bringen. Nur weil ich die Ästhetik des Covers und das Gesamtwerk einer guten Platte mag bin ich ja nicht gleich ein altmodischer Freak, oder?! (lacht) Ich denke, dass die Unter-20jährigen mich wohl so bezeichnen.

 Was verbindet dich mit Gilles Peterson, mit dem du die Compilation zusammengestellt und das Buch erstellt hast?

Baker: Vor über 20 Jahren war ich der Betreiber eines Plattenladens der über einem Club war, der Gilles leitete. Wir sammelten zu dieser Zeit die gleichen Platten und hatten einen sehr ähnlichen Geschmack. Es war eine verrückte Zeit damals. Die Leute hörten im Club in Gilles’ Sets Platten die sie wenig später bei mir im Laden kauften. Es ergänzte sich also alles sehr harmonisch. Musikalisch sind wir seit dem sehr unterschiedliche Pfade gegangen. Unsere gemeinsame Liebe steckt jedoch nach wie vor im Jazz. Vor allem in jenem Jazz der in diesem Buch beschrieben ist.

Wir erleben gerade weltweit und gerade in den UK eine Renaissance der authentischen Grooves von Soul und Funk sowie Afrobeat. Viele finden das musikalische sehr interessant, kritisieren aber, dass der sozialkritische Unterton/Kern fehlt um an die Originale heranzukommen. Braucht man also in der Adaption den gleichen Vibe der 60er Jahre – also Rassismus, Diskriminierung, soziale Unruhen etc.?

Baker: Das ist jetzt natürlich etwas übersteuert. Ich weiss natürlich um die Relevanz die gesellschaftliche und soziale Einflüsse auf die Authentizität von Musik haben. Ich bin mir jedoch nicht sicher ob das wirklich nötig ist um heute gute und ehrlich Musik zu machen. Auch wenn das Buch genau auf diese äußerlichen Einflüsse eingeht und beschreibt, wie Musiker und Künstler darauf reagiert haben.

 Der revolutionäre Geist im Jazz, den ihr auf der Compilation und im Buch dokumentiert, ist heute auch nur noch bedingt präsent. Braucht es Apartheid, Bürgerrechtsbewegung (Civil Right Movement), Rassismus und soziale Ausgrenzung – damit die Musik wieder aufbegehrt?

Baker: Ich persönlich denke einfach, dass ein ganzer Haufen an großartiger Musik bzw. musikalische Movements aufgrund einer Situation der Unterdrückung heraus entstanden sind. Wenn Minderheiten oder Randgruppen aufbegehrt haben ist meinst etwas Großes entstanden. Man denke nur an Reggae, Jazz oder Punk. Das wird auch weiterhin so sein.

Kommen wir zu deinem Tagesgeschäft. Du bist ja in allererster Linie ein Plattenhändler. Siehst du die Zukunft der Plattenläden auch so pessimistisch?

Baker: Ich weiss nicht warum, aber unser Plattenladen hat gerade seine besten Zeiten und läuft sehr gut. Natürlich weiss ich, dass das nicht dem Trend entspricht. Prinzipiell bin ich jedoch überzeugt davon, dass jeder Plattenladen, der eine eindeutige Identität sowie einen kreative Geschäftssinn besitzt, auch weiterhin erfolgreich sein wird. Man braucht eine unglaubliche Energie um einen Recordshops zu führen. In England gibt es sehr viele meiner Kollegen die das auch schon seit über 30 Jahren erfolgreich machen. Viele Läden müssen nicht nur wegen den Downloads dicht machen, sondern auch weil ihnen oft auch die Integrität.

 Die Zahlen für den Vinylverkauf sind in den letzten Jahren wieder massiv gestiegen. Sogar die Majors setzten wieder auf Vinyl. Man kann sogar in Großmärkten wieder Vinyl-Sortimente finden. Hinzu kommt, dass man inzwischen Plattenspieler mit USB- Anschluss recht günstig erstehen kann. Ein Freund von mir sagte mal einen schönen Satz: „MP3 sind gut und schön. Aber wenn ich Musik bewusst besitzen will, dann kann ich das nur wenn ich die Schallplatte habe“. Findet ein wenig ein Umdenken bei der breiten Masse statt?

Baker: Das ganz durchaus ein Weg sein, dass man sich die physikalischen Tonträger kauft und sich dann leicht überspielen kann. So besitzt man ihn letztlich dann doch irgendwie mehr als eine gesichtslose Mp3. Sehr komisch ist mein Bezug zu CDs im Moment. Irgendwie gefällt mir das Format plötzlich, obwohl ich es 20 Jahre lang boykotiert habe. (lacht)

 Dein Label ist durch die Compilations der Reihe „100% Dynamite“ sehr bekannt geworden. Reggaeliebhaber auf der ganzen Welt, sowie die Kritiken der Presse waren voll des Lobes. Du bist im Multikulti-Umfeld des Londoner Stadtteil Brixton aufgewachsen. Ist das der Grund dafür das du von Reggae so infiziert warst und dich zum Experten entwickelt hast?

Baker: Ironischer Weise mochte ich Reggae überhaupt nicht als ich in Brixton lebte. Ich war sehr erpicht auf sonst jegliche Musik – besonders aus den späten 1970ern. Genau aus dieser Phase mag ich persönlich den Reggae jetzt am liebsten. Es hat in der Tat über 15 Jahre gedauert bis ich meine tiefe Liebe zu z.B. Jackie Mittoo gefunden hatte. Unglaublich aber wahr! So habe ich mich in den letzten Jahren intensiv mit Reggae beschäftigt, obwohl ich ihn anfangs überhaupt nicht mochte und auch nicht verstehen wollte.

 Du beschäftigst dich sehr vertieft mich vielfältigen Themen. Dub, Electro, Punk, Oldschool HipHop, Funk, Ska, Disco etc. Gibt es bei dir überhaupt musikalische No-Go-Areas?

Baker: Rock. Ich mag manche Rockstücke natürlich schon, aber ich finde es ist einfach so viel und einfach genug über Rock gesagt und geschrieben worden. Es wurde so viel über Rock analysiert, diskutiert und mit anderen Genres verglichen. Es ist wohl nicht die Musik die ich nicht so mag, sondern eher der Aspekt, dass man zu lange andere Genres ignoriert hat und sie zu lange auf Rock versteift hat.

 Viele schätzen dich deshalb sehr für die akribische und detailverliebte Arbeit an den Samplern zu den verschiedensten Themen und Genres. Mir ist noch sehr gut Erinnerung, wie ich mir gebannt einen neuen musikalischen Horizont erschlossen habe als ich euere Compilation „Tropicalia“ entdeckt habe. In einem dicken Booklet konnte man über die politischen Verhältnisse, die Historie und die musikalische Auflehnung, Entwicklung und Kreativität in Brasilien der 60er Jahre erfahren. Somit darf man dich als Aufklärer und Ethnologe bezeichnen?

Baker: (lacht) Wenn schon so ein Titel, dann aber bitte Funky Music-Ethnologist!
Ich finde grundsätzlich alle historischen, gesellschaftlichen und sozialen Aspekte für relevant. Aber ich sage dir, dass kann auch sehr langweilig werden, wenn die Musik an sich nicht so der Hammer ist. Die Wechselwirkung zwischen Musik und der Geschehnisse ist einfach sehr interessant. Auf den Compilations kann man das gut nachvollziehen.

Gibt es moralische Grenzen bei der Auswahl der Track für Compilations? Ich denke da an die offenkundige Homophobie im aktuellen Dancehall oder antisemitische Texte im Rock/Metallbereich?

Baker: Natürlich gibt es diese Grenzen und diese Musik ist für uns völlig irrelevant.

Zurück zu „Freedom, Rhythm and Sound”. Kannst du die Parallelen von Punk und dem revolutionären Jazz der 1960er etwas näher erklären? Im Buch wird er immer wieder angepriesen.

Baker: Der Besitz der eigenen Musik. Die kreative Freiheit. Die Selbst-Vermarktung. Der eigene Stil und das eigene Design. Das ist alles so offenkundig analog zueinander. Man hat in gewissen Phasen und auf gewissen Ebenen die komplette Autonomie gebündelt. Das war wahre Kunst. Frei und gewaltig.

 Wo siehst du aktuell revolutionäre Züge in der Musik? Viele sprechen von den letzten revolutionären Ansätzen bei Public Enemy (HipHop) und den Produktion von Underground Resistance (Detroit Techno). Flying Lotus findet viele als ehrenwerter Nachfolger. Wie siehst du das?

Baker: Revolutionär ist augenblicklich Dubstep. Es ist frei und nicht greifbar, immer in Bewegung. Diese Untergrundkultur präsentiert sich multikulturell und verfügt über eine eigene Gruppendynamik. Man könnte sogar bei Dubstep soweit gehen und sagen, dass es von keinem Ist-Zustand der Gesellschaft abhängig ist, wie es bei anderen Subkulturen und Musik-Movements der Fall war. Das finde ich persönlich als außergewöhnlich und in einem Sinne revolutionär. Die Auswirkungen wird man in Jahren spüren massiver spüren.

Was kann die heutige Musik von Sun Ra, John Coltrane oder dem Art Ensemble of Chicago lernen?

Baker: Die Übertragung von Ideen durch Musik. Wer die Musik von damals verstanden hat und sich hineinfühlen kann, wird verstehen was ich meine.

 Wie bringt man die folgenden Generationen dazu Musik wieder bewusster zu konsumieren? Viele haben heute Gigabytes an Musik auf ihren Festplatten, kennen sich aber nicht wirklich mit Musik aus und der Konsum ist eher wahllos und willkürlich! Stimmst du da zu?

Baker: Sicherlich dreht sich alles um die Verfügbarkeit und dem Umgang damit. Ich sehe es jedoch vor allem so, dass es um das Denken geht. Wenn ein junger Mensch nachvollziehen möchte, was die frühere Generation an Musik liebte, muss er einen Erfahrungs-Prozess durchlaufen, der ihn an den Punkt bringt, an dem er sich dafür entscheidet nach der Musik zu suchen. Suchen ist heute mit dem Begriff „online“ eng verbunden. Der junge Mensch muss in der Tat Musik suchen die nicht online schnell zu haben ist. Man kann bei Ebay oder bei Online-Store natürlich auch gut suchen und auch finden – jedoch geht es einzig und allein um die Erlebnis, welche Freunde man hat wenn man Blut und Wasser geschwitzt und jegliche Kraft dafür aufgewendet hat etwas Spezielles und somit etwas Besonderes gefunden zu haben. Man hat wirklich gesucht. Man hat nach etwas gesucht, was man letztlich wirklich haben wollte. Somit hat man eine persönliche Beziehung dazu. Es geht nicht um Piraterie, nicht darum, dass es eine scheinbar grenzenlose Verfügbarkeit geht. Es geht um einen Prozess der in Bewegung kommen muss.

Ein Prozess zum Schaffen eines Bewusstseins für das Kulturgut.

Baker: Ja, aber man kann es vielleicht so ausdrücken, dass der Weg, der früher selbstverständlich war, heute das Ziel ist.

Du hörst beruflich bedingt den ganzen Tag Musik. Welche Platten legst du zu Hause auf? Gibt es bei dir überhaupt so was wie Lieblingsscheiben die es seit Jahren auf deinen Plattenspieler schaffen? Wenn ja, welche?

Baker: Ganz wenig. Da haben meine zwei Kinder natürlich absolut Vorrang und mit ihnen verbringe ich meine freie Zeit. Ein Klavier habe ich auch zu Hause und spiele sehr gerne darauf, soweit es der Alltag zulässt. Wenn ich mal Musik höre, ist die Musik meiner Kinder, die jetzt 3 und 6 Jahre alt sind. Ich würde sogar behaupten, dass diese Kindermusik strukturell einige Parallelen zu Dancehall hat. (lacht) – und das mag ich natürlich.

Dank für das Interview und frohe Weihnachten.

Baker: Ich danke dir. Merry Christmas.